Schriften von Martin Schmid

Katalog Neue Bilder 2003-2007
Ausstellung 2008
Kunst in der Glashalle, Landratsamt Tübingen

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Kohärenzen

Dieses Buch zeigt Bilder aus den letzten Jahren.

Meine Bilder treten in Schwärmen auf. Ich beginne sie rasch hintereinander, das nächste jeweils als Ausgleich des eben begonnenen vorigen. Ich treibe den Schwarm dann jahrelang vor mir her, jedes Bild weiterhin als Ausgleich und Variation des anderen. Meine Bilder haben eine umwegige Biografie: Die vielen Bilder unter dem Bild, von denen Picasso spricht, sind bei mir zahllose. Jede mögliche Variante muss sich erproben. So deckt das, was ich als fertig deklariere, wiederum einen Schwarm von Möglichkeiten.

Ich beginne leicht und beende schwer. Nach Jahren greife ich auf und setze fort, was mich als unfertig beunruhigt. Meine Bilder sind eine Treppe, die mich zum Weitergehen zwingt.

Der Begriff „Alterswerk“ hat für mich insofern eine Bedeutung, als mein Lebenswerk im Ganzen eine Treppe ist, von der keine Stufe übersprungen werden konnte, und in der die letzte immer noch eine Variation der ersten ist, auf einem höheren Niveau der Weltentstehung. Das gesetzte Ende erzwingt die Frage, ob das Ende Ankunft ist, ob die immanente Programmierung, die immer weitertreibt, im objektiven Sein einer endgültigen Bildwelt zur Ruhe gekommen ist.

Meine Bildwelt ist Integration und Desintegration. Sie ist Integration vieler Schritte von einem Nullpunkt aus, in dem kein Inhalt, sondern die geballte Möglichkeit aller Inhalte ist, hin zu einer ausgebreiteten, geordneten, inhaltsreichen Wirklichkeit. Sie ist Desintegration, die alles Einzelne zum gemeinsamen Nullpunkt zurückführt, und die archaischen Signete der Ganzheit – die Spirale etwa – in den Gegenständen des vordersten Vordergrundes vorführt. Sie ist schrittweise Verwandlung von Form in Gegenstand, und sie ist Rückbesinnung des Gegenstandes auf seine vorausgehenden Formen, indem etwa durch Blüte und Gesicht eine Sonne durchscheint, die in beiden adjektivisch wird als „rund“ und „ausstrahlend“, und Mythologie als Verkörperung der Sonne im Alltäglich-Einzelnen.

Die Form geht dem Gegenstand in Stufen voraus: Kreis wird Scheibe, Scheibe wird Sonne, Sonne wird Gesicht. Sie macht die Gegenstände analog, da sie Verkörperungen der vorausgehenden Stufe sind. Das eine ist das Bild des anderen, die Beschreibung des anderen, sie sind Geschwister und Vettern aus gemeinsamer Herkunft. Der Gegenstand ist mit seinem Aussehen identifiziert, Formen sind Bedeutungen, Formbezüge sind Sachbezüge.

Dies ist eine kohärente Welt, in der sich Ganzheit in der Teilung stets wieder herstellt auf einer jeweils höheren Stufe der Übersetzung und Integration von Welt. Bei mir heißt das: auf einer neuen Stufe der Figuration, der Sortierung des Enggedrängten in Segmenten, in Räumen und Dingen. Die sich in der Teilung wiederherstellende Ganzheit sucht Identität und Varietät, sie will sich ins Weite verzweigen und das Vielfältige vereinen.

Sie ist Selbstorganisation der Bildwelt. Sie kennt kein Außen. Das Subjekt des Vorgangs ist das entstehende Bild, der ausführende Maler sein Knecht. Sie kennt keine vorausgesetzte Wirklichkeit. Sie kennt keinen von ihr trennbaren Plan, keinen Vorsatz, kein Konzept, kein Urteil über anderes, keine Einordnung in anderes. Sie stellt nichts dar, sie ist. Alles in ihr Vorhandene ist in ihren Grenzen wirklich, da es in ihr aus ihr entstanden ist und nur in ihr seine Funktion hat. Sie kennt keine Symbole, für das Sich-gegenseitig-Bedeuten habe ich das Wort „Gleichnis“ eingesetzt. Symbole gibt es nur in einer rationalen Welt, die eine abbildende von einer abgebildeten Ebene trennen kann. Die Seele ist aber definiert als Identität von Form und Inhalt. Gleichnisse können zu Symbolen deklariert werden: Aus der Gleichniskette Sonne – Blüte – Gesicht kann ich das Schild am Wirtshaus „Zur Sonne“ machen.

Wie die unbewusste Psyche besteht meine Bildwelt aus einem Netz von Analogien. Sie macht ähnlich. Sie löst Kontrast in Harmonie, Aggression in Eros. Sie ist freundlich. Wenn das Bild fertig wird, fangen meine Figuren an zu lächeln. Sie signalisieren mir, daß sie ihren rechten Platz gefunden haben.

Die Kunst ist gleichzeitig Unterscheidung und Identifikation. Indem sie eine Form definiert, ordnet sie sie ein als Vervollständigung des bisherigen Zusammenhangs. Unterscheidung und Identifikation führen letztlich zu zwei Realitäten der äußeren Welt: Zur Abbildung des Äußeren im Inneren als dessen rationalem Modell und zum Sich-Wiederfinden des Inneren im Äußeren als seiner Verkörperung. In der einen wird das Ding schrittweise ins Äußere hinausdefiniert, in der anderen wird es schrittweise vom Inneren besetzt.

Beide Anliegen waren früher im jeweils selben Kunstwerk vereint. Die Gegenwart hat die anthropomorphen Projektionen aus der äußeren Welt zurückgezogen und die beiden Funktionen der Kunst getrennt. Heute gibt es die Kunstwelt, die von ihrem Autor ganz verschieden ist, und es gibt die Kunstwelt, die mit ihrem Autor ganz identisch ist. Die erstere meint die Gesellschaft, die letztere meint die Seele. Die erstere ist seit längerem der Mainstream, in der letzteren befinde ich mich als ihre Rückseite und ihr Ausgleich.