Schriften von Martin Schmid

Katalog Figur und Grund
Bilder seit 2008
Ausstellung 2012
Galerie Künstlerbund Tübingen

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Ganzheit als Teilung, Teilung als Ganzheit

Es gibt Kunst, die aus Fragmenten eine Bildwelt zusammensetzt. Es gibt Kunst, die ein Ganzes voraussetzt und dieses nach dem Einzelnen hin differenziert, ohne es aus der Ganzheit zu entlassen. Die Realität wird als Stückwerk angetroffen. Die Seele findet sich als Zusammenhang vor, der auf allen Umwegen immer zu sich zurückkehren will. Kunst, die Psychisches meint, setzt den Zusammenhang den Vereinzelungen voraus.
 
In meiner Bildwelt gibt es vier Wege dies zu tun: Einmal das Strömende, Einschmelzende, Variierende, Kreisende, Türmende und Ähnlichmachende der fortlaufenden Form. Dann die Fähigkeit der Gegenstände, durch Ähnlichkeit einander zu bedeuten, sich Gleichnis und verwandelnde Abbildung zu sein, wie Sonne, Blüte, Kranz, Gesicht, Auge, Schoß, See, usw. Daraus wird ein Anthropomorphes, in dem auch die Landschaft stets Figur ist, so, als regiere hier einer jener Schöpfungsmythen, in denen die Welt aus der Aufteilung eines ersten Menschen entsteht, der vorher Mann und Frau, Subjekt und Objekt in einem war (wie der indische Puruscha und der kabbalistische Adam Kadmon). Schließlich die Symmetrie als Tendenz der Ordnung, Zentrierung, Begrenzung und gleichwertiger Entgegensetzung.

Die Neigung zur Symmetrie erzwingt Spaltung und Paarung. Alles muss durch seine zugehörige Umkehrung aufgewogen werden. So bleibt die Welt in der Teilung ganz. Subjekt und Objekt werden zu zwei Profilen eines zerfallenden Gesichts. Dessen rechtes Auge („Auge der Welt“) erscheint als Frucht im Baum. Die Welt wird ausstrahlender Rahmen um einen runden Spiegel. Der Spiegel wird nacheinander Gesicht, Rose, Bauch, Schoß, eingerollte Schlange. Aus der Tendenz zu Auffächerung und Einordnung folgt die Ausbildung einander ergänzender Figurenstereotypen, eines Seelentheaters mit festen Rollen, ähnlich dem Figurenolymp Blakes oder dem Typenkosmos Jungs. Zentrierung und Begrenzung bauen die Vielfalt der Gegenstände wie zu großen Plastiken zusammen, die in der Fläche einen zweiten inneren Bildrand machen.

Alle Wege, das Ganze dem Einzelnen vorauszusetzen, kommen aus den zurückliegenden Schichten der Bildwelt im Nacheinander des Zeichnens. Auch hierin ist das Darunter und Dahinter das vieldeutige ähnlich machende Gemeinsame. So liegt unter der Kleinstruktur, die Gegenstände unterscheidet, das Liniengeflecht der Großstruktur, die Gegenstände identifiziert. So ist das, was Gegenstände symbolisch einander bedeuten macht (etwa Sonne, Sonnenblume und Gesicht mit ausstrahlenden Haarkranz), im darunter liegenden Gemeinsamen der vorgegenständlichen einfachen Form. So liegt ein Körper mit Kopf, Augen, Händen, Schenkeln, Bauch und Brüsten unter den Bäumen, Häusern, Hügeln, Wegen, die seine Formen sind. So liegt unter den Besonderheiten das platzanweisende Spielfeld. Symmetrie ist hier kein Ziel, sondern eine aus dem Hintergrund wirkende Bedingung, eine sortierende zusammenordnende Struktur. Der Doppelsinn der Gegenstände ist ein Doppelsinn des Raums: Das darunter liegende Gemeinsame ist in der Dimension der Fläche. Das darüberliegende Besondere der benannten Gegenstände ist in der Dimension der Raumtiefe. Die vorausgesetzte Ganzheit ist eine andere Seite des voraussetzungslosen Aufbaus, der keinen Schritt voraus denken kann. Schon der weiße Grund und die vereinzelte erste Form, die sich nur selber meint, sind das Ganze. Sie differenzieren sich in einer Dialektik aus Teilung und Rückführung ins Ungeteilte und bleiben dabei ganz. Als Lebensutopie wird Ganzheit mitgeführt. Am Anfang heißt sie Trieb, am Ende heißt sie Kosmos.

Sind meine Gegenstände symbolisch? Es fehlt ihnen dazu die Trennung von Zeichen und Inhalt, die das Zeichen zum Symbol macht. Hier bilden sich durch Ähnlichkeiten die Dinge gegenseitig ab, jedes ist Zeichen, jedes ist Inhalt. Darum nenne ich sie mythisch: Sie sind nicht Zeichen, sie sind Verkörperungen. Sie sind, was sie scheinen. Ihr Aussehen ist ihr Inhalt. Sie sind Verdinglichung von Form, Verräumlichungen von Vorgang. Ähnlich nennen die Gelehrten die mythischen Geschichten Verdinglichungen des Ritus. Der Mythos ist das immer neu Erzählte, immer Wiedererkannte, immer Abgewandelte, nur in der jeweiligen Abwandlung Existierende. So ist die verändernde Wiederkehr meiner zyklischen Arbeit. Spontanität lässt Macher, Machen, Stoff und Form zusammenfallen. Sie erlaubt keine Trennung von Form und Inhalt, Methode und Ziel. Sie macht kein Modell, sie kennt nichts, was ihr äußerlich wäre. Spontanes Malen ist die Realität, die es meint. Es ist die reale Entstehung einer Welt als verkörperter Seele, einer Seele als Struktur einer Welt. Es ist Sichtbarkeit und Beispiel, aber nicht Abbild.

Ich arbeite mich in die Welt hinein und aus ihr heraus. Jeder Schritt definiert mich genauer, lässt mich wirklich werden im Stoff. Jeder Schritt definiert den Stoff genauer, lässt ihn wirklich werden als Ding. Identifikation ist Trennung, Gegenübertreten ist Identifikation. Diese Ambivalenz ist als Figur in der Landschaft zum Thema gemacht. Die Figur ist in der Welt. Die Welt geht aus ihr hervor als ihre Potenz. Meine Sinnlichkeit ist mit der gezeichneten Welt ganz identisch. Wie aber könnte ich leben, wo bliebe ich, wenn es nur so wäre? In dem ich male, bin ich gleichzeitig verschieden. Das Glück eines vom Unbewussten geführten Arbeitens ist es, sich im Ding zu haben und damit frei zu sein.

Auszug aus: „Zyklisches Zeichnen“, Martin Schmid, Albstadt 1995