Schriften von Martin Schmid

Katalog Lebenslandschaften
Ausstellung 2002
Diözesanmuseum Rottenburg

Katalog PDF Download >>

Glossen

Die Glosse schreibt man nachträglich an den Rand. Der Text gilt, die Glosse ist bestreitbar. Meine Gegenstände sind hier der Text. Meine Glosse folgt ihnen, so gut sie kann.

*

Meine Malerei berichtet nicht. Sie stellt nichts dar. Meine Blumen wissen nichts von Botanik, meine Berge wissen nichts von Geologie.
Es gibt kein »Vorausgesetztes«, kein Thema, kein Herkommen von etwas. Der Gegenstand entsteht im Bild, dieses ist das umwegige Hinkommen zu ihm, die Suche nach seinem Namen. Meine Gegenstände sind die naiven Dinge, die in den Mythologien vorkommen und die aus der Kindheit in die Erinnerung hineinragen: Berg, Blume, Baum, Straße, Sonne, Mond, Höhle, Haus. Sie werden fortlaufend als Gebirge, Garten, Wald, Stadt. Sie isolieren sich aus dem unendlichen Geflecht durch ihren symmetrischen Bau. Dieser macht sie zu Gestalten, zu Figuren. Er macht sie anthropomorph, zu umkehrenden Spiegeln ihres Betrachters.
Ihre Wahrheit kommt nicht aus dem Vorausliegenden der äußeren Realität, ihre Wahrheit kommt aus dem Zurückliegenden ihres formalen Aufbaus. Sie sind Verkörperungen. Eine Blüte ist die Verkörperung einer Sonne. Diese ist die Verkörperung des gekreuzten Kreises als symmetrischem Weltplan. So geht es zurück in immer allgemeinere Formen zum Bildgrund, der nichts und alles bedeutet, den Keimgrund der Möglichkeiten.
Die jeweils zurückliegenden allgemeineren Formen bedeuten jeweils mehr Dinge und identifizieren sie miteinander, bis zum Grund, in dem alles eins ist in einer lebendigen Strömung.
Man mag sich meine Bildwelt als einen Baum vorstellen, der im Unsichtbaren wurzelt. Der Stamm wäre die Vollkraft des Inhaltslosen, Inhaltskeime bergenden Abstrakten. Die Hauptäste wären erste Hauptentscheidungen im Bereich des polymorphen Vieldeutigen. Am äußersten Gezweige säßen wie Äpfel die benennbaren Sachen. Die Bewegung geht von der Kraft über die Form zu den Namen.
Als Enden einer Verzweigung sind meine Dinge ähnlich und analog. Sie weisen aufeinander hin und bedeuten einander. Sie bleiben vieldeutig, Verdichtung des ganzen Baumes der unter ihnen ist. Sie sind keine Symbole. Das Symbol trennt die Ebene des abbildenden Zeichens von der Ebene der abgebildeten Sache.

*

In der Kunst gehen zwei kontroverse Bewegungen aufeinander zu, Thema und
Figuration, Darstellung und Verkörperung. Das Vorgefundene möchte Form werden. Die Form möchte inhaltlich und damit Gegenstand werden. Beide Bewegungen müssen ihre Kompromisse finden. Es gibt aber Weisen der Kunst, die an den Polen bleiben. Die in den letzten Ausstellungen der »documenta« vorherrschende Kunst ist radikal auf der Seite des Themas, die meine ist radikal auf der Seite der Figuration.
Thema ist das vorausgesetzte Einzelne, Figuration ist das vorausgesetzte Ganze. Thema ist Analyse, Verkörperung ist Integration. Thema ist Schock und Verletzung, die Unstimmigkeit der Welt. Verkörperung ist Heilung und Stimmigkeit der Welt, soweit sie innerhalb des Bildes ist, da Formzusammenhang in Gegenstandszusammenhang mündet. Der Gegenstand als Thema ist Bedrückung, der Gegenstand als Figuration ist Epiphanie. Thema hebt sich ab vom Hintergrund des Todes, des großen Begrenzers. Verkörperung ist auf dem Weg zu einer innerweltlichen Erlösung.
Bei mir kommt Thema herein als ein unvermutetes Wiedererkennen aus der Erinnerung.

*

Im Bildraum wachsen die Dinge aus dem Grund, man könnte sagen sie sprießen. In der Fläche wachsen sie meist von unten nach oben, türmen sich von der Basis zur Spitze. Sie kommen von unterhalb des unteren Bildrandes hinein. Oben gibt es Horizonte, oft in mehreren Kulissen gestaffelt.
Mein Bildraum ist ein fortlaufendes Band. Trotzdem möchten meine Dinge für sich ganz sein, ihre eigene Silhouette haben, herausnehmbar bleiben. Dahinter ist die Angst, daß das Nichtgezeigte nicht vorhanden sei. Es müssen beide Augen, beide Hände, und zwar jede mit fünf Fingern, beide Brüste usw. sichtbar sein. Ist ein Auge verborgen, taucht es als Auge der Landschaft wieder auf.

*

Meine Dinge bringen einander hervor, fordern einander, gebären einander, vergleichen sich miteinander. Das vorausgesetzte Ganze muß sich in seine Facetten teilen, um ganz zu bleiben, um in jedem Schritt der Teilung die Ganzheit zu finden. Es müssen alle anwesend sein, nacheinander auf die Bühne gerufen werden. Die Segmentierung als Herstellung der Ganzheit ist das Gesetz der Symmetrie.
Die polarisierten Paare, die segmentierten Gruppen müssen nebeneinander auf die Bühne treten. Die vereinzelten Dinge müssen ihren Widerpart aus sich gebären. So habe ich nie ein Haus zu Ende malen können, bevor es aus sich einen Baum gebar, oft nach langer Schwangerschaft mit ziemlichen Wehen.
Die Dinge sondern aus, was in ihnen undeutlich zu viel ist und als Gegenstand genau definiert werden möchte. So drängen die Dinge einander nach vorn und nach hinten und schaffen einen Raum, der kaum Zwischenräume kennt, eine Natur, »die keine Sprünge macht« und »die Leere haßt«. Das Voreinander und Hintereinander ist ein Nacheinander des Auftritts. So wird die Herstellungszeit zum Bildraum. so weist dieser auf seine Genese zurück. 

*

Meine heraustrennbaren einzelnen Gegenstände setzen sich zu heraustrennbaren GroßGegenständen zusammen, die ebenfalls »Figuren« sind. Man kann auch sagen, ein Umriß, der eine menschliche Figur bezeichnet, teilt sich in Dinge, die sich wieder in Dinge teilen.
Es entsteht eine anthropomorphe Gegenstandshierarchie, die an die Bilder erinnern mag, in denen Krishna sich als Welt darstellt. Eine menschliche Silhouette erhält als Kopf die Sonne, als Leib einen Berg. Der Berg teilt sich auf als Stadt. Aus der Stadt kommt das Gewimmel der Menschen. Vor dieses – ganz unten am Bildrand und beinahe vor dem Bild – setzt sich der Protagonist. Dieser »kleine Mensch« zeigt deutlich, daß er mit dem »großen Menschen« der Gesamtfiguration im Grunde identisch ist.
Oder: Der »große Mensch« teilt sich auf in viele kleine Menschen, die nach unten größer werden. Es ist eine Menschenmenge, die von hinten nach vorn die Straße herunter kommt. Daß sie in der Fläche einen »großen Menschen« bildet, wird nicht mehr wahrgenommen.
Die menschliche Figur kann, etwa durch das Muster ihrer Kleidung, zu so einem »Großgegenstand« werden. Persephones Kleid ist gemustert mit Scheiben, die herausquellen wollen und sich mit den Vegetationsformen des Bildes verbinden. Sie suggerieren Körner, Samen, Laich und verwandeln Persephones Körper in eine Akkumulation von Fruchtbarkeit.

*

Es gibt übergroße Gegenstände, die ganz durch ihre einfache Geometrie bestimmt sind. Es gibt die Scheiben von Mond und Abendsonne, die nach hinten oben an den Himmel treten. Sie verkörpern die Ganzheit als Resümee des Getümmels, die Zeitlosigkeit gegenüber der Zeitlichkeit des krausen Lineaments. Insbesondere sind sie der Widerpart des spitzen Keils der Straße, die auf sie zuläuft und sie zu treffen sucht. Es gibt die Gegenstände, die an die Rampe des unteren Rahmens treten: den Kreis als Blüte oder Gesicht, das Quadrat als Stein, die Sichel als Blatt, die Spirale als Ranke. Sie vertreten Grundausrichtungen, deren Bändigung sie sind: die ruhige Ordnung, den libidinösen Drang, die Aggression. Sie haben gemeinsam eine sie aus dem Kontext herauslösende Form und die Größe, die sie zu Gegenstandsmonumenten macht. Sie treten der monistischen Gesamtwelt gegenüber, so wie ein Betrachter seiner Welt gegenüber tritt und drücken sie gleichzeitig als ihre Signete aus.
Ihre Größe setzt Übernähe voraus, so als ob sie nur Zentimeter vom Auge entfernt wären. Das schafft einen Raum, der nicht leicht zu durchschauen ist. Wenn neben einer riesigen Blume ein winziger Turm steht, so bedeutet die Gegenstandsrelation eine große Distanz, die aber vom Formzusammenhang nicht suggeriert wird, der keinen Tiefenfluchten, sondern ein Relief schafft.
In »Das Kind in seinem Garten« (Abb. 30) stellen sich die Gegenstandsmonumente wie ein Ensemble aus Rollenfächern nebeneinander auf.
Bildzusammenhang ist stets die Ähnlichkeit des in der Sache Unähnlichen, ist ÄhnlichMachen und Ähnliches-Aussuchen. Das definiert die Kunst. Diese hat aber die Möglichkeit, durch die Ähnlichkeiten des Bildes die Zerrissenheit der gemeinten Welt auszudrücken. Bei mir ist das anders. Da Form und Gegenstand nicht unterscheidbar sind, ist Formordnung Weltordnung.
Der Vorgang ist dialektisch: Zunächst kommt die Identifikation durch den gleichen Umriß. Dann kommt die Unterscheidung etwa durch Farbe und Textur. Dann kommt die Synthese als Einordnung des kleineren Unterschiedenen ins größere Gleiche. Die Vergleichung verschiedener Bereiche geschieht oft in der Form der Umringung des einen durch das andere. Ich zeichne eine Menschengruppe auf, rot, die ungefähr den Umriß eines Hügels hat. Um sie herum zeichne ich, blau, eine zweite Menschengruppe auf, eine Gruppe von Riesen. Diese werden durch Textur alsbald zum Gebirge, während die Menschen sich individualisieren. Oder umgekehrt: Eine riesige Blüte, die so etwas wie ein strahlendes Weltgesicht ist, hat als äußere, obere Blütenblätter einen Ring von kleinen Menschen, die ihre Ausgeburt und ihre Fortsetzung scheinen, während sie im Raum als weit entfernt und perspektivisch verkleinert zu denken sind. In beiden Fällen handelt es sich um die Einbettung des ichsagenden Individualisierten in ein allgemeineres Es.
Meine Bildwelt hat ihren Ausgang in zwei fundamentalen Formen, die gegeneinander polarisiert sind, aber sich vereinen wollen. Sie sind der durchkreuzte Kreis, das Mandala und die Spirale. Das Mandala ist der Plan, der hinter und unter den Dingen liegt, es ist außerhalb des Raumes und außerhalb der Zeit als erhabene Ruhe.
Dagegen ist die Spirale in der direktesten und sinnlichsten Weise sowohl Raum als auch Zeit. Unermüdlich fortwuchernd wölbt sie das Pralle, sondert Gegenstände aus und löst sie im Zusammenhang wieder auf, gibt ihnen Heimat. Sie ist Verkörperung der Linie und Linearisierung der Körper. Als Wölbungslust ist sie Sinnlichkeit, als Durchschaubarkeit ist sie Geist. Der spiralige Raum findet sich in der deutschen Renaissance, deren Prinzip er ist.
Die Opposition von Kreis-Kreuz und Spirale wiederholt sich verkörpert als Opposition von Sonne und Schlange. Diese ist Gegenstand einer ganzen Reihe der gezeigten Bilder: »Sonnenschlange-Schlangensonne«, »Schlangenwege«, »Die Ranke«, »Sein und Zeit«. Zunächst stehen sich Schlange und Sonne als männlich und weiblich gegenüber. Aber Schlange will Sonne werden und Sonne will Schlange werden, das Abstrakte sinnlich und das Sinnliche abstrakt.
Am Schluß entrinnt die Schlange der Sonne als Weg und kehrt zu ihr zurück als auflösendes Wolkengetümmel. Letztlich gehen sie ineinander auf und werden Blüte.
Die Schlange gehört einem Zwischenbereich an zwischen dem namenlosen Abstrakten und dem benannten Gegenstand. Ich nenne ihn »die Vorausgegenstände«. Diese sind dazu bestimmt, der Stoff der Dinge zu werden und in ihnen zu verschwinden.
Die Schlange ist das Ganze. Sie tritt nie als Paar auf, aber sie ist in sich polarisiert als Kopfseite und Schwanzseite. Die Schwanzseite kann sich niederlegen als spitz zulaufender Weg, während die Kopfseite sich als beliebiger Gegenstand wie ein Pfahl neben dem Weg aufrichtet.
Die Schlange ist die verkörperte Linie als Band und Wulst, die Linie als Fleisch, durch Kopf und Augen ihre Autonomie bezeugend. In ihren Windungen ringelt sie meine Welt zusammen. Da sie das Ganze ist, kann sie als Einzelheit unter Einzelheiten eigentlich nicht vorkommen. Bevor das Bild fertig ist, verwandelt sich die Schlange in Hund, Fisch, Ranke, Gewächs.
Die Schlange ist das grenzenlose Ganze, das sich ins begrenzte Einzelne auflöst. Sie selbst muß Begrenzung zeigen: Kopf und Schwanz oder die diese vertretenden Gegenstände müssen immer sichtbar sein. Die Ambivalenz von Grenzenlosigkeit und Begrenztheit, der weiterflechtbare offene Knoten mit Anfang und Ende, ist die Struktur meines Tuns. Die Schlange ist das »Es« des Malers. Er muß sie von sich trennen und ihr gegenübertreten. Er muß sie fassen. Wenn es den Bildtitel nicht seit Jahrzehnten bei mir gäbe, hätte ich die »Schlangenwege« so benannt: »Der Beruf des Malers ist die Zähmung der Schlange.« 

*

Wir stehen aufrecht auf der ausgebreiteten Erde und widersetzen uns ihrer Ausdehnung. Wir sind Hochformate, sie ist ein Querformat. Hochformate sind Figur auch dann, wenn sie Landschaft darstellen. Querformate sind Landschaft auch dann, wenn sie Figur darstellen. Das Hochformat ist der Spiegel, der uns in einen Gegenstand umkehrt. Es bedrängt uns als Gegenüber.
Das Querformat ist eine Bühne, auf der Begegnung stattfindet, vertreten durch Akteure, die aus verschiedenen Türen kommen und es untereinander austragen, während wir im Saal sitzen. Das Hochformat ist nah und stellt uns; das Querformat ist um so ferner, je breiter es ist, je mehr es sich dem Band des Panoramas nähert, dessen Weite uns zu gelassener Betrachtung entspannt. Die aus Distanz gesehene Landschaft besteht hauptsächlich aus waagerechten Streifen, welche die entspannende Wirkung der Breite potenzieren. Wollte man die Machart der Maler der Weite in ein Signet bringen, würde man ein Band wählen, das parallel zur Länge gestreift ist. Wollte man meine Landschaften auf ein Signet bringen, so würde man ein Band wählen, das wie ein Gitter quer zur Länge gestreift ist. Meine Querformate sind bedeckt durch Elemente, die nach oben wachsen. Man geht an ihnen vorbei wie an einer Allee, sie ziehen an einem vorbei wie ein Zug von Leuten. Das empfinde ich in »Mein China« (Abb. 16), dessen Berge langsam fort zu wandern scheinen. Die Begrenzung der Reihungen findet statt durch Elemente der Symmetrie: Das ruhelos sich flechtende Band kehrt in sich selbst zurück. Ein Bild ist, wie das »Teich-Auge« (Abb. 18) eine zentrierte Ellipse im Rechteck. Bilder befestigen sich als Pyramiden im Dreieck aus Mitte und Ecken, wie »Dämmerung« (Abb. 29) oder »Hinaus« (Abb. 31).
Ich liebe die entspannenden Formate, deren Länge sie dem Band annähert. Ich suche nicht die Intensität als Spannung. Ich suche die Intensität als Steigerung, als Fülle, als Lust.