Schriften von Martin Schmid

Katalog Neue Bilder 2003-2007
Ausstellung 2008
Kunst in der Glashalle, Landratsamt Tübingen

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Querformate

Schwestern
90x120

Für die Fundierung meiner Bildwelt spielt das, was ich den „doppelten Raum“ nenne, eine besondere Rolle. Er ist es, der die Erscheinung der realen Welt zur Sprache des Unbewussten macht.

Unser Sehen kopiert Flächenbild und Raumbild übereinander. Sie haben eine jeweils verschiedene Realität, eine andere Interpretation des Gesehenen. Im ganzen Sehen scheint das Flächenbild als die Welt der Gleichnisse durch das Raumbild als die Welt der Sachen durch.

Im Flächenbild ist das, was vor dem anderen ist, im anderen und ersetzt es. So ist ein Kopf der Bauch, den er verdeckt, und interpretiert ihn. Was neben dem anderen erscheint, entwächst ihm. So wächst ein Baum im Hintergrund aus dem Kopf im Vordergrund. Das Entfernte wird zusammengebracht. Das Vorderste berührt den Horizont. Die Figur löst sich in ihrer Nachbarschaft auf: Die Hand gehört eher zu dem, was sie hält, als zum zugehörigen Arm.

Das flächig Gesehene macht aus dem Räumlichen ein Gleichnis.

In den „beiden Schwestern“ trägt die rechte ihren Hintergrund wie eine Mütze, der Hintergrund entquillt ihrem Kopf. Das Haar der linken Figur wird zum Auge, weil die blaue Blüte, die vor ihr ist, es verdeckt. Die Pflanze zur Rechten wird anthropomorph, auch dies eine Folge des „doppelten Raums“.

Der „doppelte Raum“ definiert den Gegenstand in meiner Bildwelt: Dieser ist, was er scheint und wozu sein Platz im Bild ihn macht.

Ansammlung
90x120

Meine Dingwelt baut sich von unten nach oben, von vorn nach hinten. Oft macht das Gebirge den Horizont. Der Weg, dieses zentrale Beispiel des „doppelten Raums“,  geht als Spitze hinauf auf das Gestirn zu, das der Kopf scheint zu dem er der Körper wäre.

In dieser sich türmenden Dingwelt strömen die Bewohner, die Figuren, stets von oben nach unten, von hinten nach vorn. Sie scheinen die Rampe des unteren Bildrands übersteigen zu wollen und sehen uns an. Es ist, als ob die Figuren, die bei Caspar David Friedrich von außen ins Bild hineinsehen, von außen ins Bild hineingehen und stets von uns abgewandt sind, auf ihrem Rückweg aus dem Bild heraus auf uns zukämen, nunmehr die Landschaft repräsentierend, aus deren Tiefe sie kommen. 

Das Paradies der Schuldlosen
90x120

Es geht hier nicht um die Fälle von Versuchung und Schuld, in die der Mensch hineingetreten ist um fürderhin in ihr eingeschlossen zu bleiben, es geht um die Trias Baum – Schlange – Menschenpaar, die es in vielen Mythologien gibt und die in der meinen unerlässlich ist.

Die Schlange verkörpert das Leben in der Latenz, aus der das Geschaffene entsteht und in das es zurückkehrt. Der Baum ist der erste der geschaffenen Gegenstände. In seiner Erscheinung kumuliert er die Fülle der Bedeutungen und Gleichnisse, darum ist er kosmisch.

Schlange und Baum sind Gleichnisse der Androgynität. Darum bilden sie die Achse zwischen dem getrennten Paar. Der Baum ist hier wie eine orgasmische Fackel und wie ein Kopf, zu dem die beiden Menschenköpfe Schultern, Hände, Brüste wären.

Das Paar ist das Ich und die menschliche Sexualität, die sich aus dem Welt-Eros der Umgebung heraustrennt.

Vorzeigen
90x120

Bilder wollen sichtbar machen. Die meinen haben oft den Gestus des Vorzeigens, der Aufführung, der Bühne. Das Bild will sich erklären.

Hier zeigt der Maler sein Bild, auf dem in der Spirale die fundamentale Programmierung seiner Welt zu sehen ist.

Meine Bilder gehen eine lange Strecke vom Unmittelbaren zum Übersetzten. Hier erscheint auf der sekundären Ebene des Malers im Bild und des Bildes im Bild das Signet des Ursprungs: im Äußersten das Innerste. 

Der gezähmte Drache Natur
90x130

Wenn wir das Bild in der Fläche sehen, scheint seine Welt aus einem fortlaufenden Strang gewickelt, der sich mit Kopf und Schwanz als Schlange kundtut. Im Raum sehen wir das universale Geflecht zu benennbaren Gegenständen getrennt. Es entsteht im Vordergrund eine Art Pflanzengirlande, aus der der ursprüngliche Drache deutlich genug herausschaut. Sie wird gehalten durch einen urigen Rübezahl von Gärtner. Der Drachenkampf ist zur alltäglichen Arbeit domestiziert. Mein Thor braucht seine Midgardschlange nicht auf den Kopf zu hauen. Er umarmt sie und ist mit ihr im Frieden. Zur Auseinandersetzung Mensch – Welt kommt links das Gegenüber Mann – Frau und das Ganze, die Scheibe des Gestirns.

Segen
90x120

Die Geste des Berührens ist auch eine Geste des Hervorbringens, des Hervorbringens der Welt durch die Figur und der Figur durch die Welt. 

Bekränzung des Tiers
60x100

Meine Vierbeiner, ob sie nun Hunden, Wölfen, Pferden oder Rindern gleichen, gleichen zunächst der Hand in der simplen Weise der Schattenspiele, die wir als Kinder an die Wand geworfen haben, wo die Daumen die Ohren figurieren mussten. Meine Tiere gleichen Händen mit Augen und eigenem Willen, die sich vom Körper und der Herrschaft des Kopfes losgerissen haben als eine Handlungskraft, die das Ich nicht braucht. Im anthropomorphen Bildzusammenhang wird man die „Köpfe“ zu diesen „Händen“ finden. 

Man mag hier den Begriff „Metamorphose“ verwenden. Metamorphose gibt es in der Art von Goethes Urpflanze so, dass ein Allgemeines, das die Fülle der Möglichkeiten birgt, sich schrittweise ins Besondere verzweigt und dies durch die Ähnlichkeiten der Erscheinung auf einen polymorphen Hintergrund zurückweist.

Bei Ovid liegt die Gemeinsamkeit im Tun. Arachne spinnt, also wird sie Spinne. Bei mir wie bei Goethe liegt das Gemeinsame in der Ähnlichkeit. 

Schöne Tierheit - schöne Stadt
90x120

Vor der Festigkeit und gleichmäßigen Struktur der Stadt haben sich meine sechs Figuren gesammelt. Der „Macher“, der mit den großen Händen, hält, umarmt und bändigt ein ineinander wucherndes Wirrsal von Tieren, die sich aus der Spirale des Wachstumsprozesses zur Befestigung im Einzelding sortieren wollen. 

Begrüßung
80x120

Zuerst waren da drei Köpfe. Dann gab es den Kopf in der Mitte mit zwei Händen. Dann polarisierten sich die Hände als Baum und Haus. Dann verwandelte sich der Kopf aus einer Zentralsonne in einen Berg. Zum Schluss trat das Köpfchen mit der Blume, das wie der Berg das „Ganze“ bedeutet, an die untere Rampe. Dadurch entstand die Achse der Raumtiefe. Das Quellende und das Definierte setzen sich auseinander. Die Sortierung durch die umkehrende Symmetrie herrscht vor. Sie macht das Bild zur „Szene“, zum statischen Theater. In einer Bildwelt, in der alles Gleichnis ist, werden Gesten zum Ritus. Der Ritus stellt die Ganzheit her, indem er sie ausdrückt. 

Glück
80x100

Das Liebespaar als Doppelfigur, eines aus zweien, zwei als eines. Die Körper müssen konkurrieren mit dem als Pflanze objektivierten polymorphen Trieb, der vom Vordergrund her sie zudeckt. Zum Liebespaar gehört immer die Straße, der gemeinsame Weg, auf dem es nach Hause geht. Auf der linken Seite gleicht dieser einem Sichelmond, den eine aus dem Vordergrund hineinragende Knospe zum Auge macht. 

Aus der Hügelstadt
90x140

„Die Stadt auf dem Hügel“ ist seit meinen Anfängen ein wiederkehrender Gegenstand. Die Stadt als Krone und Kopf des Berges, zu der der Weg hinaufführt. Die Bewohner kommen herunter, nach vorn auf den Betrachter zu. Zum „heraus“ gesellt sich das „hinein“ in die matriarchale Kirche, die in der Mitte lagert. 

Quellen
90x120

Der große Maler Chu Ta schrieb um 1700: „Der eine Strich ist der Ursprung allen Daseins, die Wurzel unzähliger Erscheinungen.“

Die fortlaufende Spirale ist Quellen, Treiben, Drängen, Türmen, Wuchern, Wachsen. Sich ausbreitend löst sie allen Widerstreit in sich auf. Der spiralige Raum ist der sinnliche: Nach dem Prinzip der Töpferscheibe lässt er die Wölbung unmittelbar entstehen. Er identifiziert die Dimensionen vom Punkt zur Linie zur Fläche zum Raum. Er ist die Verkörperung der Linie und die Linearisierung der Körper. Er hat eine Besonderheit, die ihn zum Medium der Figuration – des Entstehens der Gegenstände aus der Form – macht: Durch seine Überschneidungen trennt er das Ding heraus. Durch sein Fortlaufen löst er es im dynamischen Bildraum auf.

Durch den spiraligen Raum sehe ich mich den Zeichnern der deutschen Renaissance verbunden, deren Methode er ist. 

Reflektierte Landschaft
70x100

Die sich aufwölbende Erde, die Dimension des Bodens, auf dem die Dinge stehen, hat in meiner Bildwelt Bedeutung.

Hier scheint die Landschaft aus einem langen Band geflochten, das sich am Ende als die Schlange verkörpert, die den Reflektierenden inspiriert. 

Garten - Haus - Wald - Berge
80x100

Monistisch ist eine Welt, in der der Zusammenhang die Vereinzelung überwiegt, in der jedes Einzelne das andere nebenher mit ausdrückt, definiert und ins Licht setzt. In einer monistischen Welt tritt die Steigerung an die Stelle des Kontrasts.

Ich fühle mich als Nachfahre großer Monisten wie Huber und Renoir. Huber, der das Ganze aus der einen spiraligen und buckligen Linie herausspann, und Renoir, bei dem Linie, Farbe, Wölbung, Raum und Gegenstand nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das Viele ist aus derselben Spule gewickelt.

In diesem Bild kann man den Prozess der Figuration gut beobachten: die Verwandlung von Form in Gegenstand, von Zeit in Raum.

Die Identität von Linie, Fläche, Körper und Raum. Das Haus schafft ein konstruktives Gegengewicht zum universellen Wachstum. 

Blumenmädchen
70x90

Die Blumen und das Mädchen machen zusammen ein Gesicht. Der Blumenstrauß ist die Maske seiner anderen Seite. Die blaue Blüte ist an die Stelle ihres linken Auges getreten, die weiße Blüte vertritt ein Stirnauge, die linke Hand hat sich in Blumen aufgelöst. Die beiden Seiten machen zusammen das ganze Subjekt als ganze Welt. 

Tagläufer
70x100

Mein „Läufer“ kommt stets von weit und von oben. Sein Laufen hat etwas von Wirbeln. Bei seinem ersten Auftreten, 1950, ist er aus einem heraldischen Sonnenrad hervorgesprungen. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Sonnenhaft bringt er das Sonnenhafte als Blüte. Er springt durch ein schlangenhaftes schwarzes Geäst. Dieses erinnert sowohl an das Tor der Nacht wie an den Weg des Tages. Der Läufer verkörpert das Ich. Er ist gleichzeitig die männliche Sexualität. Sein Kennzeichen ist die Erektion. Dass die Sexualität „oben“ ist beim selbstherrlichen Ego, widerspricht dem Vorurteil, entspricht aber dem Mythos. Dagegen sind die Götter der Kunst untere aus der Dunkelheit, durch Fußleiden an den Boden gefesselte.

Meine Bildwelt besteht aus Stereotypen der Form, des Zusammenhangs, der Gegenstände. Alles ist jeweils eine Variante des bisherigen Bestands. Die Stereotypen haben mit „Archetypen“ nichts zu tun. Sie sind, was sie bedeuten, sie sind keine Zeichen aus einem Jenseits. Sie verdanken sich der Evidenz. Eine Spirale kann man nicht aus einem Sack voller Zeichen auswählen, sie ist kein Zeichen, sie ist die Realität, die sie ausdrückt. Die Stereotypen definieren sich gegenseitig durch Polarisierung. Seelische Unordnung des Malers drückt sich darin aus, dass die Stereotypen sich verwechseln, dass die eine sich in die andere verkleidet. In ihrem gegenseitigen Verhältnis sind die Stereotypen eine Sprache, die rein visuell ist und in Worte nicht übersetzt werden kann. Sie sind kein Alphabet von Hieroglyphen, das man vom sinnlich Vorhandenen trennen könnte.
  

Die drei Patinnen
60x100

Drei Frauen regieren meine Bildwelt: Die mittlere, hier hintergründige, ist die Geliebte. Die rechte ist die Amme und Ernährerin, die Marktfrau, die die Früchte anbietet. Die linke ist die Herrin des Allgemeinen und Ganzen, sowohl der Natur wie der Stadt. 

Das Allgemeine vereinzelt
80x100

Ein väterlicher Hirte, ein Demiurg mit großen Händen, die hervorzubringen scheinen, was sie halten, zeigt eine schwarze Schlange.

Die Schlange ist ein Gleichnis des Ganzen. Sie ist gleichzeitig Stoff und Beweglichkeit. Sie ist der Grund von allem. Sie ist grenzenlose Wandelbarkeit. Sie zeigt sich begrenzt durch Kopf und Schwanz. Sie ist das begrenzte Unbegrenzte. (Man könnte meine ganze Bildwelt ein begrenztes Unbegrenztes nennen.) Sie zeigt hier ihre Affinität zum Weg. Meine Straßen scheinen immer Verwandlungen der Schlange. Hier ist sie als Einfaches und Heraldisches herausgenommen aus der bunten Vielfalt, deren Gleichnis sie ist: Opposition des sich im Grunde gegenseitig Bedeutenden. 

Beide Seiten
40x50

Die polarisierte Welt tritt auf als Schichtung der Psyche in kosmomorphe Figur und anthropomorphe Gegenstandswelt. 

Adam benennt die Tiere
40x80

Adam trennt die Dinge als besondere heraus, indem er sie benennt. Sein Zeigefinger schafft Gegenüber. Er spricht aus der Bildwelt heraus als ihre Stimme, und er spricht in die Bildwelt hinein als ihr Lehrer.

Eine Kunst, die von Ganzheit ausgeht, hat zwei Optionen: die fortlaufende Strömung, die einschmilzt und ähnlich macht, und die Symmetrie, die durch Polarisierung verschieden macht und sortiert. Ich muss beide widerstrebenden Tendenzen in Eins bringen. 

Die „Schlange“ als das universale Gleichnis ist ein besonderes Medium dieser Sortierung. Sie ist das Dritte, in dem zwei Gegensätze analog werden. Ein Beispiel: Als Gleichnis der Sexualität trennt sie sich von dieser. Als Gleichnis der Dingwelt sondert sie sich von ihr ab, als Gleichnis von beiden macht sie beide einander zum Gleichnis.