Schriften zu Martin Schmid

Katalog Lebenslandschaften
Ausstellung 2002
Diözesanmuseum Rottenburg

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Das Unsagbare im Ungestümen - Zur Malerei von Martin Schmid

Robert Kudielka

Die Malerei von Martin Schmid bereitet den Kunstrichtern seit über vierzig Jahren Kopfzerbrechen. Figurativ und doch nicht gegenständlich, in eine Vielzahl minutiöser Bewegungen zerfallend und zugleich über jede Begrenzung hinaus wuchernd, läßt sich der Duktus dieser Bilder keiner der etablierten Richtungen und Gruppierungen zuordnen – obwohl einzelne Merkmale aus der Kunst des 20. Jahrhunderts durchaus vertraut sind. Die überschäumende, quirlige Struktur, die Glupschaugen, die Vertauschbarkeit von Kopf und Blüte, Haus und Körper, die genitalen Formentsprechungen, das lückenlose Ineinandergreifen, der Wiederholungszwang – all das kennt man aus dem Informel, dem Surrealismus, l'art brut und der Prinzhorn-Sammlung; und einige markante Details erinnern unmittelbar an andere Künstler mit einem wachen Unterbewußtsein: die aggressiv gespreizten, schwertartigen Blätter an Max Beckmann zum Beispiel, oder das runde Herauswachsen der Nase aus der Stirn an Picassos Frauenbildnisse der dreißiger Jahre. Doch derlei Vergleiche und Assoziationen, die dem Kenner lose durch den Sinn gehen und sich wie Parasiten um die Anschauung legen, verdunkeln die Eigenart von Martin Schmids Kunst eher, als daß sie zu ihrer Aufklärung beitragen; denn im Unterschied zu diesen sekundären Wucherungen sind die Bilder selber, bei aller Fülle und tumultuarischen Dichte, doch erstaunlich klar und ähnlich organisiert.

Zu erklären ist eigentlich nur, daß es nichts zu erklären gibt, weil die Bilder von Martin Schmid keine Gegenstände sind, die des Verstehens bedürftig wären, sondern offen angelegte Orte, die uns im Vollzug des Sehens unwillkürlich über uns selbst ins Bild setzen. Sie sind nicht die Relikte eines Prozesses, der ihnen entwachsen wäre, nicht Auswurf eines psychischen Automatismus, Strandgut, das auf eine vergangene Erregung in fernen Tiefen verwiese; nein, die Bilder sind die Woge selber, das in sich gegliederte und stufenweise gebaute Rollen der Brandung, das gleichsam vor unsere Füße schlägt und sich unter unseren Augen immer wieder von neuem reproduziert, »autogenetisch«, wenn man so will, so lange wir den Vorgang zu sehen bereit sind; und vor allem: so weit wir uns auf die Bewegung einzulassen vermögen. Jeder Betrachter findet darin sein eigenes Maß, kein Quantum ist verbindlich, auch nicht die Spannweite der ursprünglichen Erfahrung des Künstlers. Daß man die einzelnen Phasen des Bildgeschehens beschreiben kann, besagt nichts über den Umfang der Wahrnehmung. Die differenzierte Benennbarkeit bezeugt lediglich die Luzidität der Kunstform.

In den meisten Arbeiten sind drei unterscheidbare Zonen übereinander gestaffelt. Ganz unten, an der Grenze zum Handlungsraum des Betrachters, drängen sich, teilweise ansatzlos, elementare Formen – runde, spitze, eckige – ins Bild, die noch keiner eindeutigen Bestimmung zuneigen. Obschon in hohem Maße abstrakt, sind sie jedoch keineswegs nur durch ihren Umriß ausgewiesen, sondern scheinen das Potential des Wachsens und der Veränderung in sich zu tragen. Spiralen ringeln sich schlangenhaft, Kreise bilden Rosetten, Dreiecke schießen wie Blätter auf. Die organische und vegetabilische Tendenz der formalen Elemente läßt den Übergang zur nächsten Stufe, zur Entfaltung der Figuration, ganz natürlich, will sagen: bildnerisch folgerichtig, erscheinen.

Auf dieser zweiten Ebene, die in der Regel die Mitte der Bilder behauptet, nehmen die abstrakten Formen Gesicht an und treten in eine Vielfalt widersprüchlicher Erscheinungen auseinander. Die einfachen Triebe verzweigen sich wie die Äste eines Baumes oder die Finder einer Hand, setzen Blüten an und schlagen, unversehens, Augen auf: ein Auge, zwei Augen, viele Augenpaare. Unverhohlen sehen die Figuren einander und uns, die Betrachter, an – doch ohne eine Spur von Wiedererkennen. Die Augen sind so ausdrucksvoll wie der blinde Blick von Blumen oder die Brüste einer Frau. Denn die Figuration Martin Schmids individualisiert nicht, sie entfaltet sich auf dem Wege der Polarisierung. Weibliches tritt in einen Spannungsbezug zu Männlichem, Gebautes zu Gewachsenem. Doch die Gestalt löst sich aus dem Zusammenhang und vereinzelt sich. Die einzelnen Charaktere bleiben in ihrer Gegenstrebigkeit vielmehr beisammen wie die Finger einer Hand, wie Vögel im Nest oder die Teilnehmer einer Tafelrunde. Selbst Bauformen bilden keine Fremdkörper, sondern erscheinen innerhalb der anthropomorphen Symmetrie des Bildganzen als Gliedmaßen einer leibhaften Organisation, in der die Gegensätze und Teile nur verschiedene Manifestationen ein und desselben Lebens sind. Ein Haus mag in der Gesamtfiguration Kopf und Körper sein, die Fenster zwei Augen, die Sonne ein drittes, und das Tor in der Mitte der Mund oder Schoß, während die hochschlagende Vegetation zur Linken und zur Rechten dem Bildwesen vielfingrige Arme verleiht.

Solche Riesenfiguren meint man zu kennen. Doch das Geschlecht der Zyklopen und Basilisken, der hundertarmigen und sprechenden Bäume wird in den Mythen und Märchen gewöhnlich als ungeschlachtet hingestellt: als unheimlich und. bedrohlich. In der Bildwelt von Martin Schmid hingegen erscheint das anthropomorphe Übermaß als ausgesprochen freundlich, ja geradezu zutraulich. Das rührt offenbar daher, daß der Maler die Figurationen, die ihm das Unbewußte zuspielt, niemals aus dem Vorgang ihrer bildnerischen Genesis herauslöst und als Repräsentationen ins Licht des Bewußtseins stellt, als wären sie objektive Gestalten, die so wirklich existierten. Die wundersamen Gebilde tauchen vielmehr im Vollzug der Bilderzeugung auf, unwillkürlich, wenn auch nicht ungewollt, ohne daß sie das letzte Ziel und Resultat der Arbeit des Künstlers wären. Martin Schmid hat jahrelang daran laboriert (und tut es in gewissem Maße heute noch), daß seine Bilder unmittelbar Gefahr laufen, vom Prozeß ihrer Erzeugung wieder verschlungen zu werden, da die Triebkräfte, die sich in ihnen manifestieren, stärker sind als die begrenzten Formen, über die sie sich vorübergehend artikulieren. Denn es geht ihm um die Bekundung dieser vitalen, lebensspendenden Energie, nicht um die Phantasmen, in denen sie sich symbolisiert.

So ist es nicht verwunderlich, daß die zentrale Zone der Figuration in der Regel noch einmal überformt und hinterfangen wird durch eine dritte Stufe, die gleichermaßen einen Abschwung wie einen Umschlag der Bildmotorik herbeiführt. Gegen den oberen Rand der Bilder hin verliert sich die figürliche Polarisierung meist in einer vergleichsweise regelmäßigen Streuung kleinteiliger Wirbel, bis die Bewegung endgültig an einer Art Horizontlinie zur Ruhe zu kommen scheint. Doch genau an diesem Punkt kippt der Richtungssinn der Betrachtung im Ganzen. Die doppelte Lesart des Bildgefüges wird offenkundig. Während man, von der organischen Entfaltung der Formen geleitet, zunächst geneigt ist, die Bilder als ein Gefüge von vertikal sich übereinander türmenden Zonen zu lesen, erweist sich vom Ende der Aufwärtsbewegung her, daß das Auge im gleichen Zuge immer weiter und tiefer in die
Unergründlichkeit des Bildraumes verstrickt worden ist. Wenn sich der Blick vom hohen Horizont zurückwendet, sinkt er daher nicht einfach auf den Ausgangspunkt zurück, sondern sieht sich unverhofft in eine neue Konstellation versetzt. Zu guter Letzt sind es nicht wir, die in diese Bildwelt eindringen, sondern umgekehrt: die Bilder kommen uns entgegen, indem sie aus einer imaginären Tiefe eine überbordende, kaum zu fassende Vitalität verströmen.

Was diese Lebendigkeit sei und woher sie rühre, läßt sich wohl nicht erfragen, ohne die Quelle zu trüben und zu verfälschen. Aber daß diesen Ursprung zugänglich zu machen, eine eminente Aufgabe der Kunst sein könnte, hat vor ziemlich genau 200 Jahren ein anderer Künstler, dessen Name an Tübingen hängen geblieben ist, zu behaupten gewagt. Friedrich Hölderlin hat um 1800 die unerhörte und immer noch ein wenig ungehörige These aufgestellt, daß die wirklich neue Aufgabe der Kunst vielleicht darin bestehen könnte, ihre eigene Gegenwelt – die »schöne Leidenschaft«, wie das damals hieß – ausdrücklich einzuräumen, anstatt weiterhin mit moralischer Beflissenheit das Rohe, Ungeschiedene, Wilde lediglich als etwas, das überwunden werden muß, anzusehen. Der entscheidende Punkt dieses Arguments bestand darin, daß offenbar allein die Kunst in der Lage scheint, die dunkle Grundlage aller Vitalität – den »Frieden Saturns«, in Hölderlins Worten – ins Recht zu setzen, ohne die Feindschaft der Vernunft gegen sich aufzubringen. Denn das Ungare und Ungestüme, das Jähe, Krasse und Kunterbunte ist nicht an sich schon verwerflich oder gar bedrohlich, sondern, im Gegenteil, Ausdruck eines lebensnotwendigen Übermaßes, eines Überflusses, dessen zu ermangeln am Ende auch dem Urteilsvermögen schlecht bekommt.

Die Malerei von Martin Schmid kehrt diese freundliche Seite unseres vorbewußten Lebens hervor, die liebliche Wirrnis, die keines Aufräumens bedarf.

* Rede (gekürzt) gehalten zur Eröffnung der Ausstellung im Bundesjustizministerium in Berlin am 31. Mai 2002; Prof. Dr. Robert Kudielka lehrt an der Akademie der Bildenden Künste in Berlin.