Schriften zu Martin Schmid

Katalog Lebenslandschaften
Ausstellung 2002
Diözesanmuseum Rottenburg

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Lebenslandschaften - Eine Hinführung

Wolfgang Urban

Wuchernde, vieläugige Vegetation, kreisende Baumkronen, Gebirge dicht gestaffelter Gipfel, Blüten gleich Lichtexplosionen in gleißendem Rot, Orange, Gelb, Menschen wie Naturerscheinungen, Ereignisse des Lebendigen zwischen Fisch, Vogel oder Schlange, so bietet sich dem Betrachter die Bildwelt Martin Schmids. Ein Dschungel von Vitalität tut sich auf, eine Haltung unverhohlener Sinnenfreude und Augenlust wird an den Tag gelegt. Das Phantastische beschwört sie, nicht so sehr im Sinne des Surrealen, eher als das Reale der bildschaffenden Kräfte: der Phantasie, des schöpferischen Zusammenspiels von Bewußtem und Unbewußtem. Es ist eine in barocker Fülle schwellende Bildwelt und Malerei, die das Signum des Unverkennbaren trägt. Wer je eines der Werke von Martin Schmid gesehen, wird mühelos jedes weitere demselben Oeuvre zuordnen können, so unverwechselbar ist die Sprache, die sich hier vernehmen läßt. 

Mögen da Anklänge sein an die Phantasmagorien des Zöllners Henri Rousseau (18441910), an Max Beckmanns (1884-1950) eruptive Emotionalität oder auch Bezüge zum überbordenden Bildgeschehen eines Albrecht Altdorfer (um 1480-1534) gesehen werden, es sind nur Anklänge. Wo der Vergleich gesucht wird, gerät das Eigene, das letztlich unvergleichlich Individuelle aus dem Blickfeld. Eine Kosmogonie ganz eigener Art wird in den Gemälden und Graphiken Martin Schmids vor Augen geführt, eine permanente, nicht enden wollende und enden könnende Weltwerdung, Entstehung und Manifestationen einer Welt, einer Wirklichkeit, die stets von neuem, aus der Sicht des Malers gezeugt, geboren wird, die Emanation einer mythischen Welt, rauschhaft dionysisch gestimmt, dann wieder in apollinischer Distanz, eine, die Faunen und Satyrn nahesteht, in welche die strikte Trennung zwischen innerem Erleben und äußerer Erscheinung aufgehoben erscheint, in der das Äußere, der Baum, die Blume, der Leib der Frau, das Haus, zum Träger, zum Spiegel des Seelischen avanciert.

Das Physische als das andere des Psychischen gerät zum Resonanzboden, Reflektor des letzteren. Und umgekehrt ist das Psychische erfüllt und durchformt vom Andrang des Physischen. Innenwelt und Außenwelt, Seelisch-Geistiges und die ihnen korrespondierenden Objekte außerhalb des Subjekts, die Gegenstände draußen, sind in berückende, unlösbare Nähe zu einander gelangt, haben eine Nähe und sich gegenseitig stimulierende Intensität gewonnen, wie sie letztlich nur den Liebenden und ihrer Wahrnehmung eigen und vertraut ist, solchen, denen die Natur »lacht« oder »trauert«, der lichte Tag durchflutet ist von aufschäumenden Emotionen, denen in Dämmerung und Nacht sich das Mysterium offenbart und ihnen, um mit Worten aus Friedrich Hölderlins (1770-1843) Hymne »Brod und Wein« zu reden, »die Vergessenheit und das Heiligtrunkene« gönnt.

Darin beruht zugleich die Poesie der zu Gesicht kommenden Bildsprache. Die Blüte wird zum Gestirn, wird zum Antlitz, Architektur leibhaft, Menschliches pflanzlich.

Ihr atmosphärisches Analogon besitzt sie in der Dichtung. Der wunderbare Liebesdialog, der »Gesang der Gesänge«, das »Hohelied des Salomo« im Alten Testament mit seiner überfließenden Metaphorik kommt angesichts der Werke von Martin Schmid in den Sinn. Da heißt es - hier in der deutschen Übersetzung vom Martin Buber und Franz Rosenzweig zitiert - beispielsweise: »Da, du bist schön,/ meine Freundin,/ du bist schön./ Deine Augen sind Tauben,/ hinter deinem Schleier hervor,/ dein Haar ist wie eine Herde von Ziegen,/ die vom Gebirge Gilad wallen,/ deine Zähne wie eine Herde von Schurschafen,/ die aus der Schwemme steigen,/ … wie ein Riß der Granatfrucht ist deine Schläfe,/ … Deine zwei Brüste sind wie zwei Kitzlein,/ Zwillinge einer Gazelle,/ die unter Lilien weiden« (Hld 4, l-3).

 Im Rausch der Hingabe an die Sinne und die Sinnlichkeit wird eine ekstatisch tanzende, gebärende und verschlingende Natur gezeigt, wird das Panorama von Kreatur und Menschenwelt, von Entstehen und Vergehen, das kunterbunte Treiben des Lebens entfaltet. »Natur!«, ruft Johann Wolfgang von Goethe im gleichnamigen Fragment von 1783 aus: »Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen.« 

Ein Urvertrauen in das, was nur malend ausgedrückt werden kann, was nur malerisch sagbar ist und sich jeder begrifflichen Fassung, jeder noch so wortreichen und wortstarken Aussage zwangsläufig entzieht, begleitet die Bilder, ein Vertrauen darauf, daß hier eine Äquivalenz von Fühlen und Sagen erreichbar sei. »Man müßte doch malen können«, beginnt die erste Strophe von Eva Strittmachers Gedicht »Das Bild« aus dem Jahre 1975, »denn für den, der nicht weiß was man meint,/ kann man in Worten nicht schildern,/ wie die Sonne septemberlich scheint«. Und im Gedicht »Lichtvariationen« schreibt sie: »Niemals gelingt mir das Gleichgewicht/ zwischen Fühlen und Sagen./ Und es gelingt mir niemals das Licht/ in Worte zu übertragen.«  

»In Gesprächen mit Martin Schmid«, erinnert sich die Lyrikerin Marie-Luise Kaschnitz 1961, »habe ich erfahren, wie diese starken und merkwürdigen Bilder zustande kommen und daß hier nichts Gegenständliches verfremdet wird, sondern Formen und Symbole sich in Gegenständliches verwandeln, gewissermaßen in ihm ihre Heimat suchen. Was bei Martin Schmid immer zuerst da ist, ist die Form, vor allem er selbst. Mit sich selbst, seiner Triebhaftigkeit und seiner Geistigkeit will er die äußere Welt durchdringen, will sich in eine Landschaft, einen Baum, eine Frucht verwandeln, in Gegenstände also, die zu diesem Zweck deformiert werden müssen. Daher das Anthropomorphe seiner Darstellungen, bei denen etwa die Baumkrone an einen menschlichen Hinterkopf, ein Stamm an einen menschlichen Ellenbogen und an eine menschliche Faust erinnern können. Daher seine wilde Phantastik, die so ungesucht ist wie die zarte, beinahe klassische Welt seiner Stilleben, und der salatähnlichen Gebilde, bei denen gewisse Spirallinien in der sinnlichen Welt ein Platz angewiesen wird.«

Der Vorgang, der hier skizziert wird, führt zum Kern, zum Entscheidenden. Es ist der für alle Kunst fundamentale Prozeß des Mythischen oder der Bildung des Mythos. Im Mythos agiert das Ingenium des Menschen, insofern das Wort »Mythos« primär und ursprünglich ein SichÄußern meint, in dem nach Ernesto Grassi »Sprechen, Reden, Denken und Tun noch nicht geschieden sind«2. Im Augenblick des Äußerns – und in die Akte des Äußerns sei das Malen einbezogen – ereignet sich Schöpfung von Welt. »Die ingeniöse Tätigkeit« wiederum »ist – im Unterschied zur syllogistischen, rationalen und deduktiven – ein Sehen von Beziehungen, ein Erfinden von Ähnlichkeiten und, als solches, die Voraussetzung jeglicher Übertragung und damit der metaphorischen, der analogischen Sprache«3. Im künstlerischen Akt, der Aristoteles folgend traditionell in die Momente der »Poiesis« und der »Mimesis« gegliedert wird, gehört der Mythos in den Bereich des »Poietischen«. Ist die »Mimesis«, wörtlich übersetzt die »Nachahmung«, der Praxis zugeordnet, der »Kunstfertigkeit« mit all ihren Seiten bis hin zur Wahl der Mittel in einer Darstellungsaufgabe, so meint die »Poiesis« nach Platon und Aristoteles ganz allgemein den Aspekt im künstlerischen Prozeß, der aus dem »Nichtsein ins Sein« treten läßt, wie der Mythos dem bislang Ungesagten Ausdruck und Sprache verleiht. Das »Poietische« und »Mythische«, wagen wir vor diesem Hintergrund zu formulieren, ist das »Zu-Sagende«, das »Auszudrückende«, indem diesem »Zu-Sagenden« ein anfängliches, schöpferisches Sprechen und »Zur-Sprache-kommen-Lassen« eignet.  

Mit solcher mythischer Bildsprache haben wir es bei Martin Schmid zu tun, eine, die neue Relationen in den Blick bringt zwischen dem Walten von Pflanze und Tier, dem Leben, Lieben und Hausen des Menschen in der ihn umgebenden und ihn selbst erfüllenden und inspirierenden Lebenswelt. Jeder Künstler ist auf seine unverwechselbare Weise »Mythologe«. »Mythologie«, lehrt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) in seiner »Philosophie der Kunst«, »ist die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst«, um dann erläuternd fortzufahren: »Die Mythologie ist nichts anderes als das Universum im höheren Gewand, in seiner absoluten Gestalt, das wahre Universum an sich, Bild des Lebens und des wundervollen Chaos in der göttlichen Imagination, selbst schon Poesie und doch für sich wieder Stoff und Element der Poesie. Sie (die Mythologie) ist die Welt und gleichsam der Boden, worin allein die Gewächse der Kunst aufblühen und bestehen können.«4

Wenn ein durchgehendes Kennzeichen modernen Kunstschaffens existieren sollte, dann vielleicht jenes autodidaktische Element des Schaffens einer jeweils neuen individuellen Bildsprache, einer individuellen Mythologie, wie wir sie auch bei Martin Schmid vor uns haben. Hierzu bemerkte einmal Pablo Picasso (1881-1973) nach den Berichten seiner langjährigen Lebensgefährtin Françoise Gilot: »Angefangen mit van Gogh sind wir alle, so groß wir auch sein mögen, in gewissem Maße Autodidakten – man könnte fast sagen, naive Maler. Die Maler leben nicht mehr innerhalb einer Tradition, und so muß jeder von uns all seine Ausdrucksmöglichkeiten neuerschaffen. Jeder moderne Maler hat das Recht, diese Sprache von A bis Z zu erfinden.«5 Jeder mußte, so Picasso, »sein individuelles Abenteuer finden«6.

Diesem individuellen Abenteuer der Weltbegegnung und malerischen Formulierung sehen wir uns in den Bildern von Martin Schmid gegenüber. Die Wirklichkeit spannt sich in seiner Perspektive als ein endloses Band – daher auch seine Vorliebe für das Querformat. Jedes Bild läßt sich nach allen Seiten hin fortsetzbar denken, präsentiert mithin nur einen Ausschnitt aus dem endlosen Fluß des Universums des Lebendigen, hat Entstehen und Vergehen, Aufgehen und Erlöschen in sich als Gegenstand schon integriert. Die Landschaft wird ihm zum Sinnbild des Lebendigen und seiner Erfahrung von Wirklichkeit, in der Unbewußtes und Bewußtes miteinander interagieren. Dem unaufhaltsamen Drang des Unbewußten in der künstlerischen Aussage kommt offensichtlich ein gleichrangiger Stellenwert zu wie dem Bewußtsein, das Irrationale spielt mit der Ratio, das Unkalkulierbare vollendet den Kalkül. Das planende, gezielte Anlegen einer Darstellung läßt sich erfassen, mitreißen von triebhaft, physischem Drängen ohne sich und zu verraten. Welcher Wert dem Unbewußten eingeräumt wird, vermag eine weitere Reflexion von Picasso zu erhellen. Picasso wendet sich dabei gegen die pure malerische Aktion, gegen die vollständige Selbstaufgabe und das Sich-Verlieren »in der Gebärde«. »Auf jeden Fall« sei »das Unbewußte so stark in uns, daß es sich auf ein oder andere Weise ausdrücken muß. Es sind die Wurzeln, durch die sich alles mitteilt, von einem Wesen zum anderen, das zur unterirdischen Schicht des Menschlichen gehört. Was wir auch tun, es drückt sich aus, auch gegen unseren Willen. Weshalb sollten wir uns ihm also freiwillig ausliefern?«7

Bei der allenthalben ins Auge springenden Vitalität der Malerei von Martin Schmid, die so unübersehbar mit geradezu leibhaftiger Verve vorgetragen wird, mag daher klärend wirken, was Wieland Schmied 1967 aufgegangen ist: »Man sieht dieser Malerei an, daß sie die eines denkerischen, grüblerischen Menschen ist, der die Farbmaterie bewegt als wälze er einen Gedanken. Dieser reflexive Zug aller Arbeiten Martin Schmids ist aber untrennbar mit seinem vehementen ungebändigten – vielleicht auch ungebärdigen – Temperament verbunden; seine Intellektualität ist vital, seine Vitalität intellektuell.«

So ist also bei allem Stürmisch-Wilden, bei allem Ungebärdigen der Werke von Martin Schmid auf die Bedachtsamkeit, die in ihnen waltet, zu achten. Als Mythologe des Lebendigen und Lebensvollen gibt er einem Kosmos in irritierender Fülle Gestalt. Kosmische Landschaften des Lebendigen, in denen, um eine Metapher von Karl Krolow aus seinem Gedicht »Augenschein« zu verwenden, die Bäume »einen grünen Atem haben« und »die Fröhlichkeit ein junges Tier« ist. Es ist ein Landschaftsuniversum, welches das Leben in seiner Aggressivität, seiner Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit wie in seiner Zärtlichkeit, in seiner Unheimlichkeit und Unüberschaubarkeit wie in der Geborgenheit, in seiner Sinnlichkeit wie in seiner Spiritualität artikuliert. Fraglos, darin mag kein Zweifel aufkommen, ist es die individuelle Sicht des Malers selbst, sind es dessen innere Gesichte, die dieser Kosmos anschaulich werden läßt, aber zugleich erheben sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit und behaupten unbeirrbar die Richtigkeit ihrer Sehweise. Dabei ist die Utopie einer universalen Symbiose, welche die Bildwelt Martin Schmids zum Vorschein bringt, nicht zu übersehen. Es ist aber gerade diese Erfahrung des Utopischen, das jeden, der dessen gewahr wird, beglückt und durch diese Beglückung sich bewahrheitet.

  1. Zitiert nach: Martin Schmid. Katalog der Ausstellung im Bundesministerium der Justiz. Bonn – Berlin 2002, 10.
  2. Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike. Köln 1980, 163.  
  3. Ernesto Grassi: Die Macht der Phantasie. Königstein /Taunus 1979, 18.
  4. F. W. J. Schelling: Philosophie der Kunst. Darmstadt 1976, 49 f.  
  5. Francoise Gilot – Carlton Lake: Leben mit Picasso. Frankfurt a. M. (5. Aufl.) 1972, 64.
  6. Ebenda, 65.  7. Ebenda, 250.  
  7. Zitiert nach Martin Schmid (Anm. 1), 12